20. Februar 2016

Medien

KUNSTSTOFF: EIN OPFER DES EIGENEN ERFOLGS?

Der Erfolg von Kunststoffen ist unbestritten, doch gleichzeitig werden ihre Nachteile, etwa die Abfallentsorgung, diskutiert. Prof. Dr. Helmut Maurer und Patricia Vangheluwe, PhD, zwei Kunststoffexperten, sprechen über ihre Ideen, wie dieser weltweiten Herausforderung begegnet werden kann.

Kunststoffe spielen in fast allen Lebensbereichen eine wichtige Rolle und bringen Verbesse­rungen, Komfort und Kosten­ einsparungen mit sich. Seit über 100 Jahren helfen die viel­ seitigen Materialien, unsere Welt zu gestalten. Neue Kunst­stoffe werden ständig entwi­ckelt. Doch mit zunehmender Anhäufung von Kunststoffabfällen auf Deponien und in den Ozeanen ist ihre Entsorgung heute ein zentrales Thema für den Umweltschutz. Patricia Vangheluwe, PhD, von Plastics­ Europe und Professor Dr. Helmut Maurer von der Abteilung für Abfallmanagement und Recy­cling der Europäischen Kommission diskutieren über das Di­lemma, das sich daraus ergibt.

Creating Chemistry: Für manche ist das Wort Kunststoff gleichbedeutend mit
 der Wegwerfkultur geworden, doch das Material leistet einen enormen Beitrag zu unserem täglichen Leben. Denken Sie, dass Kunststoff ein Imageproblem hat?

Helmut Maurer: Kunststoff ist ein Opfer seiner Vielseitigkeit und seines großen Erfolgs. Was wird nicht aus Kunststoff hergestellt? Wir tragen ihn als Teil von medizinischen Anwendungen sogar im Körper. Es gibt keinen Grund, Kunst­stoff zu verteufeln. Das Problem liegt aus meiner Sicht darin, dass er viel zu häufig ver­wendet wird. Wir verkaufen und produzieren davon so viel wie nur irgend möglich, und dann fehlen die Werkzeuge, um ordentlich damit umzugehen. Geplante Obsoleszenz ist zu einem Prinzip der Industrie geworden.

Patricia Vangheluwe: Ich bin auch der Mei­nung, dass Kunststoff ein Imageproblem hat, und das müssen wir ändern. Zum Beispiel müssen wir viel mehr tun, um gebrauchte Kunststoffe als Ressource zu nutzen, und den Menschen begreiflich machen, dass Kunst­stoff ein wertvolles Material ist. Als Gesell­schaft müssen wir dieses Thema in Angriff nehmen, weil Kunststoff so enormes Potenzial zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen bietet und einer der ressourcenwirksamsten Werkstoffe überhaupt ist.

Patricia Vangheluwe, PhD, Direktorin für Verbraucher- und Umweltangelegenheiten bei PlasticsEurope

Der steigende Verbrauch hat zu Problemen geführt, da einzelne Länder die großen Mengen an Kunststoffen, die weggeworfen werden, nur schwer bewältigen können. Dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) zufolge enden zwischen 22 % und 43 % der Kunststoffabfälle weltweit auf Deponien, statt wiederverwendet oder recycelt zu werden. Wie kann man dieses Problem angehen?

Maurer: In Entwicklungsländern wird Kunststoff praktisch immer wegge­worfen, er landet entweder auf der Müllkippe oder in der Natur. Selbst in Europa enden etwa 50% auf der Deponie. Es ist klar, dass wir dringend handeln müssen. Was wir brauchen, ist ein weltweites Deponieverbot für Kunststoffe. Zudem schwimmen in unseren Ozeanen Millionen Tonnen an Kunststoff, zersetzt in Mikropar­tikel. Jedes Jahr gelangen weitere 10 bis 15 Millionen Tonnen in die Meeresumwelt. Wir müssen uns da­bei auf globaler Ebene unterhalten, denn Ozeane haben keine Grenzen. Außerdem müssen wir an der Che­mie des Materials arbeiten. Produkte müssen aus Materialien hergestellt werden, die für das Recycling entwi­ckelt wurden, und toxische Zusatz­stoffe vermeiden, die es erschweren. Das ist eine große Herausforderung für die Kunststoffindustrie.

Vangheluwe: Ich teile Herrn Maurers Sicht, ein weltweites Deponieverbot zu unterstützen. Was Gebrauchs­abfälle angeht, kann die gesamte Wertschöpfungskette – von der Kunststoffindustrie über Produkt­ erzeuger und Einzelhändler bis zu Endverbrauchern – noch besser werden. Wir müssen Produkte unter dem Aspekt der Ressourceneffizienz entwickeln, was nicht das Gleiche ist wie eine recyclinggerechte Ent­wicklung. Dabei müssen wir berücksichtigen, was mit dem Produkt am Ende seines Lebenszyklus passieren wird. Hersteller nehmen das Thema Abfall seit jeher sehr ernst, weil es wirtschaftlich sinnvoll ist, Ressour­cen innerhalb der Produktion so effizient wie möglich zu nutzen. Ihre gesamte Produkt-­ und Anwendungs­entwicklung zielt darauf ab, Produk­te leichter, langlebiger und funktio­naler zu machen. Das trägt dazu bei, Ressourcen einzusparen. Dies hat ähnlich positive Auswirkungen, wie Abfall zu vermeiden.

„Wir müssen viel mehr tun, um gebrauchte Kunststoffe als Ressource zu nutzen, und den Menschen begreiflich machen, dass Kunststoff ein wertvolles Material ist.”

Patricia Vangheluwe, PhD, Direktorin für Verbraucher- und Umweltangelegenheiten bei PlasticsEurope

Oft ist es für Industrieländer günstiger, Kunststoff Tausende von Kilometern per Schiff zu verschicken, als ihn dort wieder aufzubereiten, wo er verwendet wurde. Sollte Recycling nicht auch in der Nähe wirtschaftlich attraktiver werden?

Vangheluwe: Hochwertige Rezykla­te sollten als Produkte angesehen werden, wie jedes andere Produkt auf dem Markt. Auf einem freien Markt können Produkte gehandelt werden, Angebot und Nachfrage bestimmen den Markt. Doch es ist gut, dass Recycler Hand in Hand mit der Wertschöpfungskette vor Ort arbeiten, um mehr Wert aus den recycelten Materialien zu schöpfen. Kunststoffhersteller können Recycler unterstützen, da sie das Wissen über das Material selbst haben. Diese Informationen können dabei helfen, zu entscheiden, welchen Märkten diese Produkte dienen kön­nen und wie die Qualitätskontrolle aussehen sollte.

Maurer: Wie Frau Vangheluwe richtig sagt, kennen die Produzenten ihr Material am besten, und für Recycler ist es äußerst wichtig, über dieses Wissen zu verfügen. Es ist immer noch viel zu tun, um diesen Wissens­transfer zu erleichtern. Wir haben viele Möglichkeiten, um das heimische Kunststoffrecycling auszu­bauen. Zuerst können wir Vorgaben festlegen, die ein Ziel definieren, um erheblich mehr zu recyceln. Dann müssen wir auch die Marktförderung vorantreiben. Wir können Kriterien einführen, wann Abfall nicht mehr als solcher anzusehen ist (End­-of­-Waste­ Kriterien), und eine Marktnachfrage für hochwertiges Recycling schaffen.

Prof. Dr. Helmut Maurer, Hauptrechtsrat der Abteilung für Abfallmanagement und Recycling, Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission

Die Kunststoffverbrennung zur Energiegewinnung ist ein eigener Industriezweig. Da die weltweiten Recyclingquoten niedrig sind, argumentieren viele, dass es sich bei Kunststoff um einen wesentlichen Bestandteil des Energiemixes handelt. Sehen Sie eine langfristige Rolle für Konzepte zur energetischen Verwertung von Kunststoffabfällen?

Maurer: Grundsätzlich sollte das Verbrennen von Kunststoff vermie­den werden, weil dabei die Prozessenergie der Kunststofferzeugung verloren geht. Das Verbrennen wird zurückgehen, wenn Recycling attraktiver wird. Doch tatsächlich ist ein Großteil des gebrauchten Kunst­stoffs für Recycling ungeeignet – zum Teil wegen der von den Produ­zenten hinzugefügten Gefahrstoffe, etwa bestimmte Flammschutzmittel oder Weichmacher. Doch wir spre­chen von einem beweglichen Ziel, weil der Kunststoff von morgen – der besser recycelbare Kunststoff – naturgemäß zu mehr Recycling führen wird. Ein anderes wichtiges Argument gegen das Verbrennen ist der Klimawandel. Bis 2050 haben wir ein Maximalkontingent von 1.000 Milliarden Tonnen CO2­Emissionen, das wir einhalten müssen, um die globale Erwärmung auf 2 Grad Cel­sius zu begrenzen. Doch die bislang bekannten weltweiten Reserven an fossilen Brennstoffen entsprechen 2.900 Milliarden Tonnen CO2. Wenn wir diese Ressourcen nicht aus­ schöpfen könnten, würde uns das zwingen, mehr zu recyceln.

Vangheluwe: Energierückgewin­nung ist manchmal die ökoeffizien­teste Lösung, besonders für Misch­abfälle. Wenn das mit Blick auf den Produktlebenszyklus der Fall ist, ist Energierückgewinnung eine sinn­volle Option für die Abfallwirtschaft. Hoffentlich wird es eines Tages eine Innovation geben, die es uns er­ laubt, Mischkunststoffe, die nicht nachhaltig recycelt werden können, in Rohstoffe zu zerlegen, die wieder­ verwertet werden können, um Kunststoff wirtschaftlich und öko­logisch nachhaltig herzustellen. Das wäre ein Durchbruch, der eine stärkere Verbreitung von Kunst­stoffrecycling unterstützen würde.

„Selbst in Europa enden etwa 50% des Kunststoffs auf der Deponie. Es ist klar, dass wir dringend handeln müssen. Was wir brauchen, ist ein weltweites Deponieverbot für Kunststoffe.”

Prof. Dr. Helmut Maurer, Hauptrechtsrat der Abteilung für Abfallmanagement und Recycling, Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission

Wie werden sich Kunststofferzeugnisse Ihrer Ansicht nach in den nächsten 50 Jahren entwickeln? Wo sehen Sie die größten Chancen und Herausforderungen?

Maurer: Ich würde mir wünschen, dass sich Kunststoff von seinem negativen Image als allgegenwärti­ges, billiges und leicht zerbrechliches Material befreit. Aber ich würde davor warnen, zu glauben, dass Fortschritt allein von mehr Technologie ab­hängt. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass sich bei einer jährlichen weltweiten Wachstumsrate von 5 % die Kunststoffproduktion alle
 14 Jahre verdoppeln würde, sodass wir 2043 pro Jahr 1.200 Millionen Tonnen erzeugen würden. Das wäre offensichtlich nicht nachhaltig. Schon heute ist Kunststoff in der Meeres­umwelt völlig außer Kontrolle. Ich denke, wir produzieren zu viele Dinge, die nicht wirklich gebraucht werden.

Vangheluwe: Es wird kontinuierliche Entwicklungen geben bei intelligenten Verpackungen, Verpackungsfolien, medizinischen Anwendungen wie Prothesen und sogar bei leichteren Verbundstoffen für Konstruktions­ anwendungen in der Automobil­- und Baubranche. Biobasierte Kunststof­fe werden weiter entwickelt und ich glaube, dass wir über einen Misch­kunststoff verfügen werden, der in den kommenden 50 Jahren als Aus­gangsmaterial für Kunststoff einge­setzt wird. Außerdem werden wir eine erhöhte Verwendung von CO2 als Einsatzmaterial haben und damit den Kohlenstoffkreislauf schließen. Bei der Produktion von Polyurethanen geschieht das bereits. Wenn Kunst­stoff auch weiterhin all die Vorteile liefern soll, die er bisher geboten hat, müssen wir uns weiter mit den Herausforderungen von Abfallwirt­schaft, Müll und Kunststoff in der Umwelt auseinandersetzen. Ich war immer der Überzeugung, dass Technologie und Innovation einen Unterschied machen können. 
Mit laufender Weiterbildung im Bereich angemessener Abfallwirt­schaft und Innovationen wird Kunst­stoff weiterhin Lösungen für die ge­sellschaftlichen Herausforderungen liefern, die vor uns liegen.

Patricia Vangheluwe

Professor Dr. Helmut Maurer