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KUNSTSTOFF: EIN OPFER DES EIGENEN ERFOLGS?

Kunststoffe spielen in fast allen Lebensbereichen eine wichtige Rolle und bringen Verbesserungen, Komfort und Kosten einsparungen mit sich. Seit über 100 Jahren helfen die viel seitigen Materialien, unsere Welt zu gestalten. Neue Kunststoffe werden ständig entwickelt. Doch mit zunehmender Anhäufung von Kunststoffabfällen auf Deponien und in den Ozeanen ist ihre Entsorgung heute ein zentrales Thema für den Umweltschutz. Patricia Vangheluwe, PhD, von Plastics Europe und Professor Dr. Helmut Maurer von der Abteilung für Abfallmanagement und Recycling der Europäischen Kommission diskutieren über das Dilemma, das sich daraus ergibt.
Creating Chemistry: Für manche ist das Wort Kunststoff gleichbedeutend mit der Wegwerfkultur geworden, doch das Material leistet einen enormen Beitrag zu unserem täglichen Leben. Denken Sie, dass Kunststoff ein Imageproblem hat?
Helmut Maurer: Kunststoff ist ein Opfer seiner Vielseitigkeit und seines großen Erfolgs. Was wird nicht aus Kunststoff hergestellt? Wir tragen ihn als Teil von medizinischen Anwendungen sogar im Körper. Es gibt keinen Grund, Kunststoff zu verteufeln. Das Problem liegt aus meiner Sicht darin, dass er viel zu häufig verwendet wird. Wir verkaufen und produzieren davon so viel wie nur irgend möglich, und dann fehlen die Werkzeuge, um ordentlich damit umzugehen. Geplante Obsoleszenz ist zu einem Prinzip der Industrie geworden.
Patricia Vangheluwe: Ich bin auch der Meinung, dass Kunststoff ein Imageproblem hat, und das müssen wir ändern. Zum Beispiel müssen wir viel mehr tun, um gebrauchte Kunststoffe als Ressource zu nutzen, und den Menschen begreiflich machen, dass Kunststoff ein wertvolles Material ist. Als Gesellschaft müssen wir dieses Thema in Angriff nehmen, weil Kunststoff so enormes Potenzial zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen bietet und einer der ressourcenwirksamsten Werkstoffe überhaupt ist.

Der steigende Verbrauch hat zu Problemen geführt, da einzelne Länder die großen Mengen an Kunststoffen, die weggeworfen werden, nur schwer bewältigen können. Dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) zufolge enden zwischen 22 % und 43 % der Kunststoffabfälle weltweit auf Deponien, statt wiederverwendet oder recycelt zu werden. Wie kann man dieses Problem angehen?
Maurer: In Entwicklungsländern wird Kunststoff praktisch immer weggeworfen, er landet entweder auf der Müllkippe oder in der Natur. Selbst in Europa enden etwa 50% auf der Deponie. Es ist klar, dass wir dringend handeln müssen. Was wir brauchen, ist ein weltweites Deponieverbot für Kunststoffe. Zudem schwimmen in unseren Ozeanen Millionen Tonnen an Kunststoff, zersetzt in Mikropartikel. Jedes Jahr gelangen weitere 10 bis 15 Millionen Tonnen in die Meeresumwelt. Wir müssen uns dabei auf globaler Ebene unterhalten, denn Ozeane haben keine Grenzen. Außerdem müssen wir an der Chemie des Materials arbeiten. Produkte müssen aus Materialien hergestellt werden, die für das Recycling entwickelt wurden, und toxische Zusatzstoffe vermeiden, die es erschweren. Das ist eine große Herausforderung für die Kunststoffindustrie.
Vangheluwe: Ich teile Herrn Maurers Sicht, ein weltweites Deponieverbot zu unterstützen. Was Gebrauchsabfälle angeht, kann die gesamte Wertschöpfungskette – von der Kunststoffindustrie über Produkt erzeuger und Einzelhändler bis zu Endverbrauchern – noch besser werden. Wir müssen Produkte unter dem Aspekt der Ressourceneffizienz entwickeln, was nicht das Gleiche ist wie eine recyclinggerechte Entwicklung. Dabei müssen wir berücksichtigen, was mit dem Produkt am Ende seines Lebenszyklus passieren wird. Hersteller nehmen das Thema Abfall seit jeher sehr ernst, weil es wirtschaftlich sinnvoll ist, Ressourcen innerhalb der Produktion so effizient wie möglich zu nutzen. Ihre gesamte Produkt- und Anwendungsentwicklung zielt darauf ab, Produkte leichter, langlebiger und funktionaler zu machen. Das trägt dazu bei, Ressourcen einzusparen. Dies hat ähnlich positive Auswirkungen, wie Abfall zu vermeiden.
„Wir müssen viel mehr tun, um gebrauchte Kunststoffe als Ressource zu nutzen, und den Menschen begreiflich machen, dass Kunststoff ein wertvolles Material ist.”
Patricia Vangheluwe, PhD, Direktorin für Verbraucher- und Umweltangelegenheiten bei PlasticsEurope
Oft ist es für Industrieländer günstiger, Kunststoff Tausende von Kilometern per Schiff zu verschicken, als ihn dort wieder aufzubereiten, wo er verwendet wurde. Sollte Recycling nicht auch in der Nähe wirtschaftlich attraktiver werden?
Vangheluwe: Hochwertige Rezyklate sollten als Produkte angesehen werden, wie jedes andere Produkt auf dem Markt. Auf einem freien Markt können Produkte gehandelt werden, Angebot und Nachfrage bestimmen den Markt. Doch es ist gut, dass Recycler Hand in Hand mit der Wertschöpfungskette vor Ort arbeiten, um mehr Wert aus den recycelten Materialien zu schöpfen. Kunststoffhersteller können Recycler unterstützen, da sie das Wissen über das Material selbst haben. Diese Informationen können dabei helfen, zu entscheiden, welchen Märkten diese Produkte dienen können und wie die Qualitätskontrolle aussehen sollte.
Maurer: Wie Frau Vangheluwe richtig sagt, kennen die Produzenten ihr Material am besten, und für Recycler ist es äußerst wichtig, über dieses Wissen zu verfügen. Es ist immer noch viel zu tun, um diesen Wissenstransfer zu erleichtern. Wir haben viele Möglichkeiten, um das heimische Kunststoffrecycling auszubauen. Zuerst können wir Vorgaben festlegen, die ein Ziel definieren, um erheblich mehr zu recyceln. Dann müssen wir auch die Marktförderung vorantreiben. Wir können Kriterien einführen, wann Abfall nicht mehr als solcher anzusehen ist (End-of-Waste Kriterien), und eine Marktnachfrage für hochwertiges Recycling schaffen.

Die Kunststoffverbrennung zur Energiegewinnung ist ein eigener Industriezweig. Da die weltweiten Recyclingquoten niedrig sind, argumentieren viele, dass es sich bei Kunststoff um einen wesentlichen Bestandteil des Energiemixes handelt. Sehen Sie eine langfristige Rolle für Konzepte zur energetischen Verwertung von Kunststoffabfällen?
Maurer: Grundsätzlich sollte das Verbrennen von Kunststoff vermieden werden, weil dabei die Prozessenergie der Kunststofferzeugung verloren geht. Das Verbrennen wird zurückgehen, wenn Recycling attraktiver wird. Doch tatsächlich ist ein Großteil des gebrauchten Kunststoffs für Recycling ungeeignet – zum Teil wegen der von den Produzenten hinzugefügten Gefahrstoffe, etwa bestimmte Flammschutzmittel oder Weichmacher. Doch wir sprechen von einem beweglichen Ziel, weil der Kunststoff von morgen – der besser recycelbare Kunststoff – naturgemäß zu mehr Recycling führen wird. Ein anderes wichtiges Argument gegen das Verbrennen ist der Klimawandel. Bis 2050 haben wir ein Maximalkontingent von 1.000 Milliarden Tonnen CO2Emissionen, das wir einhalten müssen, um die globale Erwärmung auf 2 Grad Celsius zu begrenzen. Doch die bislang bekannten weltweiten Reserven an fossilen Brennstoffen entsprechen 2.900 Milliarden Tonnen CO2. Wenn wir diese Ressourcen nicht aus schöpfen könnten, würde uns das zwingen, mehr zu recyceln.
Vangheluwe: Energierückgewinnung ist manchmal die ökoeffizienteste Lösung, besonders für Mischabfälle. Wenn das mit Blick auf den Produktlebenszyklus der Fall ist, ist Energierückgewinnung eine sinnvolle Option für die Abfallwirtschaft. Hoffentlich wird es eines Tages eine Innovation geben, die es uns er laubt, Mischkunststoffe, die nicht nachhaltig recycelt werden können, in Rohstoffe zu zerlegen, die wieder verwertet werden können, um Kunststoff wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig herzustellen. Das wäre ein Durchbruch, der eine stärkere Verbreitung von Kunststoffrecycling unterstützen würde.
„Selbst in Europa enden etwa 50% des Kunststoffs auf der Deponie. Es ist klar, dass wir dringend handeln müssen. Was wir brauchen, ist ein weltweites Deponieverbot für Kunststoffe.”
Prof. Dr. Helmut Maurer, Hauptrechtsrat der Abteilung für Abfallmanagement und Recycling, Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission
Wie werden sich Kunststofferzeugnisse Ihrer Ansicht nach in den nächsten 50 Jahren entwickeln? Wo sehen Sie die größten Chancen und Herausforderungen?
Maurer: Ich würde mir wünschen, dass sich Kunststoff von seinem negativen Image als allgegenwärtiges, billiges und leicht zerbrechliches Material befreit. Aber ich würde davor warnen, zu glauben, dass Fortschritt allein von mehr Technologie abhängt. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass sich bei einer jährlichen weltweiten Wachstumsrate von 5 % die Kunststoffproduktion alle 14 Jahre verdoppeln würde, sodass wir 2043 pro Jahr 1.200 Millionen Tonnen erzeugen würden. Das wäre offensichtlich nicht nachhaltig. Schon heute ist Kunststoff in der Meeresumwelt völlig außer Kontrolle. Ich denke, wir produzieren zu viele Dinge, die nicht wirklich gebraucht werden.
Vangheluwe: Es wird kontinuierliche Entwicklungen geben bei intelligenten Verpackungen, Verpackungsfolien, medizinischen Anwendungen wie Prothesen und sogar bei leichteren Verbundstoffen für Konstruktions anwendungen in der Automobil- und Baubranche. Biobasierte Kunststoffe werden weiter entwickelt und ich glaube, dass wir über einen Mischkunststoff verfügen werden, der in den kommenden 50 Jahren als Ausgangsmaterial für Kunststoff eingesetzt wird. Außerdem werden wir eine erhöhte Verwendung von CO2 als Einsatzmaterial haben und damit den Kohlenstoffkreislauf schließen. Bei der Produktion von Polyurethanen geschieht das bereits. Wenn Kunststoff auch weiterhin all die Vorteile liefern soll, die er bisher geboten hat, müssen wir uns weiter mit den Herausforderungen von Abfallwirtschaft, Müll und Kunststoff in der Umwelt auseinandersetzen. Ich war immer der Überzeugung, dass Technologie und Innovation einen Unterschied machen können.
Mit laufender Weiterbildung im Bereich angemessener Abfallwirtschaft und Innovationen wird Kunststoff weiterhin Lösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen liefern, die vor uns liegen.