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„Wir können die Welt ernähren“

25. Februar 2020

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Wir können die Welt ernähren

Professorin Louise O. Fresco, Vorstands­vorsitzende der Wageningen University & Research in den Niederlanden, hat ihre Karriere dem Verständnis des globalen Ernährungs­systems gewidmet. Hier erklärt sie, wie wir das System verbessern können.

Blick auf das Gesamtsystem

Professorin Louise O. Fresco

Vorstandsvorsitzende der Wageningen University & Research/Niederlande

Louise O. Fresco wurde in den Nieder­landen geboren, verbrachte aber einen Großteil ihrer Kindheit in Brüssel/Belgien. Nach dem Studium der Agrar­soziologie an der Wageningen University & Research meldete sie sich freiwillig bei den Vereinten Nationen in Papua-Neuguinea, bevor sie 1986 über Maniokanbau promovierte.

Nachdem sie auf der akademischen Leiter bis zur Professorin für Pflanzen­produktions­systeme hochgeklettert war, trat sie 1996 in die Ernährungs- und Land­wirtschafts­organisation der Vereinten Nationen (FAO) ein, zunächst als Forschungs­direktorin und später als stell­vertretende General­direktorin. Im Jahr 2014 wurde sie zur Vorstands­vorsitzenden der Wageningen University & Research ernannt. Sie ist nicht-geschäfts­führendes, unabhängiges Mitglied im Vorstand von Syngenta und berät vor allem zu Nach­haltigkeits­themen. Zudem ist sie Belletristik- und Sachbuch­autorin.

Creating Chemistry: Ihre Universität beschreibt unter dem Motto „zweimal mehr mit zweimal weniger“ die Herausforderung, die Welt bis 2050 nachhaltig zu ernähren. Sind wir auf dem richtigen Weg, um dies zu erreichen?

Professorin Louise O. Fresco: Ich denke, wir müssen zwischen einem ehrgeizigen Ziel und dem Zeitplan für die Umsetzung unterscheiden. Dies wird Zeit in Anspruch nehmen, aber wenn man die enorme Ineffizienz sieht, mit der heute alles genutzt wird – seien es Land, Wasser, chemische Produkte oder Arbeitskräfte –, sieht man, wie viel Verbesserungspotenzial besteht. Schauen Sie sich an, wie wir in den Niederlanden mit Weizenrost umgegangen sind. Wir haben den Einsatz von Chemikalien durch bessere Managementtechniken um etwa 90 Prozent reduziert und die Erträge sind deutlich gestiegen. Es gibt viele Länder, in denen die Erträge noch erhöht und die Effizienz verbessert werden können. Also ja, ich denke, wir sollten dieses Ziel haben. Es mag Länder geben, in denen dies nicht möglich ist. Aber wenn man kein ehrgeiziges Ziel hat, kommt man auch nicht dorthin.


Was bedeutet die Idee eines nachhaltigen Ernährungssystems für Sie und hat sich Ihr Verständnis davon im Laufe Ihrer Karriere weiterentwickelt?

Ich komme aus einer Schule der Systemtheorie. Noch bevor der Begriff Nachhaltigkeit populär wurde, wussten wir, dass man nicht nur die Ernte, sondern auch die Umwelt, die gesellschaftlichen Bedingungen und so weiter betrachten muss. Wir haben die verschiedenen Auswirkungen der Landwirtschaft auf die Umwelt im Laufe der Zeit viel besser verstanden. Das Bewusstsein für Produktivitäts- und Effizienzsteigerung geht Hand in Hand mit dem Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Man kann nicht effizient sein, ohne nachhaltig zu sein, und man kann die Natur nicht wirklich schützen, wenn man keine gesunde Landwirtschaft hat. Wie wir Nachhaltigkeit betrachten und wie ich sie persönlich betrachte, hat sich in gewisser Weise weiterentwickelt, aber nicht die grundlegenden Systeme, die dahinter stehen – diese waren schon immer da.

Wie helfen Wissenschaft und Technologie, nicht nur Effizienz, sondern auch Nachhaltigkeit zu erreichen?

Dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen. Das am schnellsten wachsende Gebiet in der Lebensmittelproduktion ist eigentlich die Aquakultur, die viele Probleme mit dem Einsatz von Antibiotika und der Wasserverschmutzung hatte. Aber es gibt heute Systeme, in denen man beispielsweise das Wasser durch Muscheln filtern und dann das Abwasser zur Bewässerung wiederverwenden kann. Es gab auch viel Züchtungsarbeit bei Pflanzen, aber diese konzentrierte sich auf die Steigerung der Erträge und nicht unbedingt auf Nährstoffe. Man will eine Pflanze, die tolerant gegenüber Schädlingen und Krankheiten ist und auch nahrhaft ist. Es ist eine Systemperspektive über die Gesamtheit der Nutzung von Land, Materialeinsatz und Wasser.

Afrika hat auf jeden Fall das Potenzial, sich selbst zu ernähren, wenn man sich anschaut, wie viel Fläche noch nicht voll genutzt wird.“

Professorin Louise O. Fresco

Vorstandsvorsitzende der Wageningen University & Research, Niederlande

Sie haben in der Vergangenheit gesagt, dass ein gewisser Fleischkonsum dazu beiträgt, das volle ökologische Potenzial des Planeten auszuschöpfen. Was meinen Sie damit?

Fleisch ist nur ein Oberbegriff und es gibt einen großen Unterschied zwischen Schweinen und Geflügel auf der einen Seite und Rindern und Milchkühen auf der anderen Seite. Es gibt viele Gebiete auf der Welt, in denen man keine Nutzpflanzen anbauen kann. Um das biologische Potenzial des Planeten bestmöglich zu nutzen, kann dieses Land von Rindern genutzt werden. Schweine und Geflügel können Lebensmittelabfälle und -reste verdauen. Etwa 35 Prozent aller produzierten Lebensmittel werden derzeit verschwendet. Wir können uns dies nachhaltig zunutze machen, indem wir sie von anderen Tieren verdauen lassen. Aus gesundheitlicher Sicht essen die Industrieländer zwar im Durchschnitt zu viel Fleisch, aber in vielen Ländern ist der Konsum von tierischem Eiweiß sehr gering. Aus Sicht der Nachhaltigkeit wäre es daher unklug, ein vollständiges Fleisch-Moratorium zu verhängen.


Niemand will einen Low-Tech-Zahnarzt aufsuchen, aber einige Menschen im Westen romantisieren eine natürliche oder altmodische Lebensmittelproduktion. Warum ist das so?

Mein Buch Hamburgers in Paradise: The Stories Behind the Food We Eat analysiert dieses Problem. Die meisten Menschen, gerade in urbanen Gegenden, haben keine realistische Vorstellung mehr davon, wie Lebensmittel hergestellt werden. Was sie in den Medien sehen, sind oft die schlimmsten Fälle von Tierquälerei oder der übermäßige Einsatz von Chemikalien. So ist das Bild, dass etwas mit unserem Ernährungssystem grundsätzlich nicht stimmt, tief verwurzelt. Viele Menschen mögen denken, dass sich die Dinge verschlimmern, aber das ist einfach nicht der Fall: nicht bei unserer Lebensmittelproduktion, nicht bei den Lebensmittelpreisen und nicht bei den Auswirkungen der Lebensmittelproduktion auf die Umwelt. Der Welt geht es eigentlich viel besser als noch vor einem halben Jahrhundert. 

An der Wageningen University & Research wird daran geforscht, die Erträge und den Nährwert wichtiger Kulturpflanzen zu verbessern und die Auswirkungen des Klimawandels auf Pflanzen zu verstehen.

Das zukünftige Wachstum der Weltbevölkerung wird sich auf Afrika konzentrieren, wo die meisten Lebensmittel von Kleinbauern produziert werden. Welche Möglichkeiten sind am effektivsten und nachhaltigsten, um deren relativ niedrige Erträge zu steigern?

Afrika hat auf jeden Fall das Potenzial, sich selbst zu ernähren, wenn man sich das Ausmaß der noch nicht voll genutzten Fläche ansieht. Wir müssen das landwirtschaftliche System in eine Richtung modernisieren, bei der die Mechanisierung, in welcher angepassten Form auch immer, eine Rolle spielt. So hat beispielsweise das Afrika südlich der Sahara kaum Bewässerung; nur 3 bis 4 Prozent der Fläche werden bewässert. Dort besteht ein enormes Potenzial für zwei Kulturen pro Jahr. Aber Sie brauchen gemeinsame Anstrengungen, um das politische Umfeld zu verbessern. Regierungen und andere, einschließlich des Privatsektors, müssen in ein modernes System investieren und Anreize für eine neue Generation von Landwirten schaffen. Ich bin jedoch optimistisch, dass der Privatsektor – darunter Saatgutfirmen, Chemie- und Düngemittelunternehmen sowie Banken – prüft, wie eine Zusammenarbeit möglich ist, um den Landwirten bei der Modernisierung zu helfen.
 

Wie stellen wir sicher, dass die städtische Bevölkerung in Afrika die Möglichkeit hat, sich gesund zu ernähren, und welche Rolle spielt der Privatsektor?

Es gibt keine Nahrungsmittelproduktion ohne die Privatwirtschaft, natürlich auch nicht in Afrika. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass der Privatsektor erkennt, dass ihm eine wichtige Rolle bei der Organisation der gesamten Nahrungskette zukommt. Supermärkte werden in Afrika immer wichtiger und können durch die Zusammenarbeit von Kunden und Bürgern mit Landwirten und Produzenten eine wichtige Rolle spielen. Wir brauchen auch viele Investitionen in die Verarbeitung von Lebensmitteln, in Kühlketten und Schlachthöfe, um die wachsende Stadtbevölkerung mit gesunden Nahrungsmitteln zu versorgen. Aber es bedarf einer abgestimmten Lebensmittelpolitik und eines abgestimmten Engagements zwischen Regierung und Privatsektor.

Produktivität und Effizienz zu steigern, geht Hand in Hand mit einem Bewusstsein für Nachhaltigkeit.“ 

Professorin Louise O. Fresco

Vorstandsvorsitzende der Wageningen University & Research, Niederlande

Können Sie ein Beispiel für ein Land geben, das bei der Bewältigung von Herausforderungen im Bereich Landwirtschaft und Ernährung besonders erfolgreich war und von dem andere lernen können?

Ich kenne auf der ganzen Welt kein einziges Land – einschließlich der Industrienationen –, das wirklich über eine kohärente und integrierte Agrar- und Ernährungspolitik verfügt. Aber es gibt eine Reihe von Ländern, die Landwirtschaft und Lebensmittel sowohl aus inländischer als auch aus exportorientierter Sicht ernst nehmen. Das eine ist Äthiopien, wo meiner Meinung nach eine gute nationale Politik gemacht und versucht wird, mit Kleinbauern zusammenzuarbeiten und sie in den Privatsektor zu integrieren. Vietnam ist zum Beispiel auch deshalb interessant, weil dort aus dem Nichts eine riesige Kaffee- und auch eine Aquakulturindustrie aufgebaut wurde. Jedes Land hat sein eigenes einzigartiges Potenzial. Aber ich mache mir immer ein wenig Sorgen bei der Vorstellung, dass Länder sich gegenseitig kopieren. Sie können sich inspirieren lassen, aber ihre Erfahrungen müssen mit den spezifischen Bedingungen und der Kultur des Lands verknüpft sein. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass Zugang zu Wissen und Ausbildung besteht. Das ist das Wichtigste.
 

Glauben Sie, dass wir ein Ende von Welthunger und Unterernährung zu Ihren Lebzeiten erleben werden?

Das hängt von den Ursachen von Hunger und Unterernährung ab. Wenn man sich ansieht, wo sich die Hungernden heute befinden, dann sind die meisten von ihnen Vertriebene in Gebieten mit zivilen Unruhen. Es geht hier nicht um das Produktionspotenzial, sondern um politische Spannungen. Für Hungerleidende ist eine Steigerung von Produktivität und Einkommen von Vorteil. Dann gibt es eine größere Gruppe von Menschen, die nicht akut hungern, aber sich nicht ausgewogen ernähren. Wenn ich einen Zauberstab hätte und etwas gegen Bürgerunruhen und Kriege tun könnte, dann wäre ich mir 100 Prozent sicher. Aber aus rein technischer Sicht denke ich, es ist durchaus möglich. Mit unseren aktuellen Techniken – von den modernen Techniken, die sich in der Entwicklung befinden, ganz zu schweigen – können wir die Welt auf jeden Fall gesund und nachhaltig ernähren.