17. Februar 2023
Medien

Genug ist genug!

Minimalisten, sind das nicht die mit den weißen, leeren Räumen? Ja und Nein: Neben einem Designstil ist freiwillige Einfachheit auch eine soziale Bewegung und Anleitung zum nachhaltigen, bewussten Konsum. Unsere Autorin probiert aus, wie viel für sie genug ist. 

Auch wenn meine neue Wohnung nur semi-minimalistisch aussieht, so hat mir das Ausmisten per Einpack-Party und das gründliche Nachdenken darüber, welche Dinge ich wirklich brauche, viel gebracht.

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Eva Scharmann

hat ihren Umzug zu einem Minimalismus-Experiment gemacht.

Meine Reise in Richtung Minimalismus und mehr Nachhaltigkeit beginnt mit einem Umzug innerhalb Kölns und der Erkenntnis: Ich bin Jägerin und Sammlerin – wie so viele Menschen in Wohlstandsgesellschaften. Laut L. A. Times besitzt ein durchschnittlicher US-Haushalt um die 300.000 Dinge, nach Schätzungen der Neuen Zürcher Zeitung hortet jeder Mensch in Europa rund 10.000 Gegenstände. Zahlen, die Anhänger eines minimalistischen Lebensstils gerne abschreckend zitieren, für die es aber keine Belege gibt. Ich beginne bei mir zu zählen, gebe aber schnell wieder auf.

Braun und weiß gefleckte Kuh steht im Wasser

Beim inoffiziell im Internet geführten Wettbewerb der Minimalisten, möglichst auf die magische 100 zu kommen, kann ich ohnehin nicht mithalten. „Weniger ist mehr“, lautet das Credo, bei dem auch die Idee eines nachhaltigeren Lebens mitschwingt. Klingt erst mal gut. Aber wie genau sieht das aus? Im Internet finde ich unter dem Suchbegriff „minimalism“ Tausende Bilder von luftig-leeren Räumen in makellosem Weiß. Und ich stoße auf „The Minimalists“, mit bürgerlichen Name Joshua ­Fields Millburn und Ryan Nicodemus, die Millionen Menschen helfen wollen, mit weniger Besitz sinnvoller zu leben. Die beiden US-Amerikaner verbreiten ihre Botschaft auf allen Kanälen: Sie bloggen, podcasten, schreiben Bücher und halten enthusiastische Reden.

Mehrere Sachen hängen an einer Kleiderstange

Der leere Drang nach mehr

Was sagt die Wissenschaft zum Minimalismus Trend? Woher kommt überhaupt der Wunsch nach freiwilliger Einfachheit? Ich frage ­Joshua Hook, Professor für Psychologie an der University of North Texas/USA. Er hat in einer Übersichtsstudie die Beziehung zwischen Minimalismus, freiwilliger Einfachheit und Wohlbefinden untersucht. Wenige Stunden später habe ich die Antwort: „Zumindest hier in den Vereinigten Staaten gibt es oft einen Drang nach mehr – mehr Geld, größere Häuser und so weiter. Aber ich habe den Eindruck, dass sich dieser Drang oft leer anfühlt“, schreibt der Psychologie-Professor. Das gilt auch in Köln, denke ich. 

 

Zu viele Dinge, zu viele Termine, zu viel Information. Während der Pandemie wurde vielen Menschen in Überflussgesellschaften bewusst, was in ihrem Leben alles „zu viel“ war. Und mit dem Lockdown begann das große Ausmisten. Für die einen ein Zeitvertreib, für die anderen Notwendigkeit. Sie brauchten mehr Platz, weil auf einmal alle Familienmitglieder ständig zu Hause waren. Mir fällt auf: Dieser Lockdown-Minimalismus ist nur die Reaktion auf ein Problem. 

 

Videoanruf bei Richard Watson, Autor, Dozent und Futurist-in-Residence an der Cambridge Judge Business School/England. Ich erreiche ihn in seinem Gartenhaus. „Jede Menge Zeug hier drin, wie man sieht“, ruft Watson, Jahrgang 1961, fröhlich in die Kamera. Die Bewegung vom Mehr zum Weniger ist für ihn „definitiv ein Trend für Menschen in wohlhabenden Industrienationen, für eine eher junge und urbane Zielgruppe“. Sie bilden eine Minderheit. Der Gegentrend heißt Maximalismus: „Das Anhäufen von Dingen als Statussymbol kann man besonders in Schwellenländern beobachten.“ Und nicht nur dort. Auch in reichen Ländern wollen viele Menschen sich einfach nur etwas gönnen. Während etwa in Deutschland die Carsharing-Raten 2021 weiter deutlich gestiegen sind, war jede vierte Neuanmeldung ein spritschluckender Geländewagen.

Schreibtisch mit zwei Bürostühlen

„Studien zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen Minimalismus und Wohlbefinden.“

Professor Joshua Hook
University of North Texas/USA

Für die Minimalisten ­Millburn und ­Nicodemus zahlt sich der „Weniger ist mehr“ Lifestyle aus: Nicht nur ihr eigenes Leben haben sie damit nach eigenen Angaben zum Positiven gewendet, auch ihre Follower berichten in Posts von Glücksgefühlen, mehr Zufriedenheit, besseren persönlichen Beziehungen. Große Versprechen. In Köln ist davon noch nicht so viel zu spüren. Was sagt die Wissenschaft? Nachfrage bei Professor Hook in Denton/Texas, prompte Antwort: Die untersuchten Studien zeigen „eine grundsätzlich positive Beziehung zwischen Minimalismus und Wohlbefinden“. Er weist allerdings darauf hin, dass fast alle Studien korrelativ waren. Das heißt: Nur weil es einen starken Zusammenhang gibt, bedeutet das nicht, dass es eine eindeutige Ursache-Wirkung-Beziehung gibt. „Aus diesem Grund können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass Minimalismus das Wohlbefinden steigert, sondern nur, dass sie positiv zusammenhängen“, sagt der Wissenschaftler und kündigt weitere Untersuchungen dazu an. Ich muss mich wohl gedulden und starte einen Selbstversuch.

Mann und Frau stehen in einer Landschaft die am Strand grenzt

Brauch’ ich das wirklich?

Zeit für den Praxis-Test und eine Einpack-Party à la „The Minimalists“. Das geht so: Man tut, als wolle man umziehen und packt sein Hab und Gut in Umzugskartons, beschriftet alles ordentlich und packt anschließend nur die Sachen wieder aus, die man unbedingt braucht. Für den Rest gilt: spenden, verkaufen, recyceln. Doch vor der Aktion kommt die Reflexion, raten die Minimalisten: Die Frage „Wie soll meine Wohnung aussehen?“ kann ich erst beantworten, wenn ich weiß, wie mein Leben aussehen soll. Auf so essenzielle Fragen war ich gar nicht vorbereitet. Aber gut. Die Antwort in meinem Fall: Weniger materieller Ballast und mehr Zeit für Ausflüge in die Natur.

 

Beim Packen für meinen echten Umzug komme ich erst zügig voran, da ich zunächst nur die Dinge einpacke, die ich in der neuen Wohnung unmittelbar brauchen werde – einen Topf, Teller, ein Handtuch und ähnliche „Essentials“. Dann wird’s zäh: Die Schubladen sind voll mit vergilbten Konzertkarten, im Kleiderschrank türmen sich T-Shirts bergeweise, in den Küchenschränken entdecke ich allein sechs angebrochene Packungen Paprikapulver. Den Keller verdränge ich erst einmal …

 

Und während ich noch dabei bin, kräftig auszusortieren und zu entsorgen, greife ich schnell mal prokrastinierend zum Smartphone und stutze: Immer wieder poppt beim Scrollen auf Social Media Werbung für Produkte auf, die sich des Minimalismus-Credos bedienen. Die Suche nach Minimalisten und deren Ideen hat offensichtlich meine Algorithmen ermuntert, mir beim Ausmisten dazwischenzufunken und immer wieder Kaufempfehlungen zu machen.

 

Minimalistische Geschäfte

Inzwischen ist das Prinzip „Weniger ist mehr“ ganz augenscheinlich bis in die Produktwelt vorgedrungen. Richard Watson beantwortet die Frage, ob auch Unternehmen eine minimalistische Philosophie verfolgen können, mit einem klaren „Ja“ und nennt als Beispiel Muji. Die japanische Firma ist mit ihren funktional gestalteten Produkten im minimalistischen Design weltweit erfolgreich. Sie bietet inzwischen auch Mikrohäuser an. Kleine Häuser als Produktpalette, darüber bin in doch auch schon in meiner Heimat Nordrhein-Westfalen gestoßen. Dort schenkt die Firma Containerwerk ausgemusterten Schiffscontainern ein zweites Leben – für durchaus hochwertige Wohnverhältnisse auf wenig Platz.

Gruppe Mini-Häusern aus Containern

Der Minimalismus-Gedanke verlinke sich nicht nur mit der Tiny-House-Bewegung, sondern auch mit dem Mega-Thema Nachhaltigkeit, meint Watson. Weil in den Mini-Häusern wenig Platz ist, muss man sich auf das Wesentliche beschränken. Zudem gilt üblicherweise: Je weniger Wohnfläche jemand bewohnt, desto geringer die CO2-Emissionen.

„Der Zugang zu Dingen ist wichtiger als der Besitz. Und wer teilt, spart Ressourcen.“

Richard Watson
Futurist-in-Residence, Cambridge Judge Business School/England

„Du wirst nichts besitzen und glücklich sein“, heißt es in dem Video „Acht Vorhersagen für die Welt des Jahres 2030“, das anlässlich des Weltwirtschaftsforums 2017 erstellt wurde. Davon bin ich weit entfernt, denke ich, und werfe die Konzertkarten ins Altpapier. Der Satz stammt von der dänischen Abgeordneten Ida Auken, die eine Zukunft des Teilens vorhersagt. Und der britische Autor Richard Watson sagt, beim Thema Nachhaltigkeit könnten und sollten sich Minimalismus und die Sharing-Kultur treffen: „Der Zugang zu etwas ist wichtiger als der Besitz. Und wer Dinge teilt, verbraucht weniger Ressourcen.“ Besonders für junge Leute sei es normal, sich das, was man braucht, bei Bedarf zu leihen, so Watson.

 

Mein Minimalismus-Fazit lautet: Auch wenn meine neue Wohnung nur semi-minimalistisch aussieht, so hat mir das Ausmisten per Einpack-Party und das gründliche Nachdenken darüber, welche Dinge ich wirklich brauche, viel gebracht. Von den 100 Teilen allerdings bin ich immer noch meilenweit entfernt. Indes trösten mich Millburn und Nicodemus: Es gehe nicht darum, „möglichst wenig zu besitzen, sondern einfach die richtigen Sachen – und was richtig ist, muss jeder für sich selbst herausfinden“. 

Ältere Frau macht am Tisch Sudoku während ein Mann im Hintergrund Geschirr abwäscht

Ich nehme mir vor, weiter an mir und meinem Nichtbesitz zu arbeiten, und bin gespannt, ob die Minimalismus-Bewegung Bestand haben wird. Der Futurist Richard Watson in Cambridge jedenfalls runzelt vor seinem Laptop die Stirn und warnt angesichts einer drohenden weltweiten Rezession: „Ich hoffe wirklich, dass der Minimalismus bleibt, aber wenn die Wirtschaft zusammenbricht, könnte der Trend zum Fenster hinausfliegen!“ Denn wer sich plötzlich aus ökonomischer Notwendigkeit einschränken müsse, bei dem funktioniere ein Lebensstil bewusst gewählter Genügsamkeit nicht mehr. Der Psychologe Joshua Hook in Texas ist da optimistischer: „Wenn dem Einzelnen die positiven Auswirkungen des Minimalismus bewusst werden, ist der Trend meiner Meinung nach absolut nachhaltig.“

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