6. Februar 2024
Medien

Talente aus dem Untergrund

Sie sind winzig klein oder beeindruckend groß, leben sowohl in den Tiefen des Ozeans als auch in der Stratosphäre, können nutzen oder schaden: Pilze. Ihre Vielfalt macht sie zu gefragten Talenten für unterschiedlichste Bereiche – von nachhaltigen Baulösungen bis hin zu einer klimaneutralen Chemie. Zeit, die Verwandlungs- und Überlebenskünstler groß rauszubringen.

Sie galt als vollkommen verseucht: die Gegend um den Katastrophenreaktor von Tschernobyl im Norden der Ukraine. Doch 1991, fünf Jahre nach dem verheerenden Atomunfall, entdeckten Forschende Erstaunliches: Ein schwarzer Schimmelpilz hatte sich an den Wänden im Inneren des Reaktors ausgebreitet. Dieser überlebte dort nicht nur irgendwie – er gedieh äußerst prächtig. Cryptococcus neoformans, so sein Name, war regelrecht heiß auf Radioaktivität. Der Grund dafür war schnell gefunden: Der Pilz verfügt über einen hohen Anteil des Pigments Melanin, durch das er Strahlung absorbieren und diese in chemische Energie umwandeln kann. Nun untersuchen Forschende, ob Schimmelpilze dank dieser Eigenschaften auch Astronauten vor gefährlicher Strahlung im Weltall schützen könnten.

Eine Ansammlung von mehreren Pilzen.

Künstler der Verwandlung

Pilze, so die Berliner Biotechnologin und Professorin  Vera Meyer, „haben unglaublich vielfältige Fähigkeiten, was ihren Stoffwechsel anbelangt“. Meyer ist Leiterin des Fachgebiets Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der Technischen Universität Berlin und hat sich seit über 20 Jahren der Welt der Fungi verschrieben: „Es ist ihre Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit, die mich so fasziniert. Dazu gehört auch, wie sie zwischen Freund und Feind changieren.“ Einerseits gäbe es kein Leben, wie wir es kennen, ohne ihr Myzel – ihr unterirdisches Fadengeflecht, das Bäume und Pflanzen mit Nährstoffen versorgt. Andererseits können sie Organismen auch schaden, etwa indem sie Infektionen hervorrufen. Ihre Erscheinungsform reicht vom Fruchtkörper, der auf dem Waldboden wächst und so gut schmecken kann, bis zum Schimmel auf einer alten Brotscheibe. Und während es eine Pilzspore gerade mal auf die Größe von 2 bis 10 Tausendstel eines Millimeters bringt, ist der größte lebende Organismus der Erde ein dunkler Hallimasch in den USA: Dessen Myzel erstreckt sich in einem Nationalpark über eine Fläche von 9 Quadratkilometern.

Portrait Vera Meyer

„Um von fossilen Rohstoffen wegzukommen, müssen wir das Potenzial von Pilzen nutzen.“

Professorin Vera Meyer, 
Leiterin des Fachgebiets Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der Technischen Universität Berlin

Smarte Netzwerker

„Pilze sind überall, und sie sind Alleskönner“, fährt Vera Meyer fort. „Sie sind gleichermaßen Meister der Zersetzung wie der Synthese. Sie können pflanzliche Rohstoffe wie Holz oder Stroh durch Enzyme, also Bio-Katalysatoren, in ihre Bestandteile zerlegen und diese für vielfältigste Produkte neu kombinieren und zusammensetzen.“ An Ideen, wie der Mensch sich das zunutze machen könnte, mangelt es Meyer und ihrem Team nicht. Sie forschen zu pilzbasierten und damit nachhaltigen Fahrradhelmen ebenso wie zu Kleidung oder Verpackungsmaterial. Gleichzeitig entfachten die vielen Talente der Pilze auch in der akademischen Welt eine neue Dynamik der Vernetzung. „Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Communitys beginnen jetzt, intensiver miteinander zu sprechen“, sagt Meyer. Forschende, die sich bislang etwa nur mit Proteinen oder Enzymen aus Pilzen beschäftigten, „verstehen nun: Mit Pilzen könnte ich auch nachhaltige Materialien für den Bau herstellen“.

 

Das Thema Bau beschäftigt auch Vera Meyer. Zusammen mit ihrem interdisziplinären Kollektiv MY-CO-X, das Künstler, Architekten und Biotechnologen vereint, hat sie eine bewohnbare Skulptur aus Pilzen und Holz geschaffen: Die 20 Quadratmeter große Holzkonstruktion MY-CO SPACE orientiert sich am Design einer Raumkapsel und ist vollständig biologisch abbaubar. „Bei den tragenden Teilen zeigen sich die Herausforderungen, vor denen die Pilzbiotechnologie steht: Materialien so haltbar und stabil zu machen, dass sie es mit Beton aufnehmen können“, erläutert Meyer. Die Forscherin setzt dafür auf sogenannte Verbundwerkstoffe: Das Myzel wächst dabei in Reststoffe aus der Land- und Forstwirtschaft wie Stroh, Rinde oder Sägespäne oder in Beton, der aus Bauschutt recycelt wurde, und verdichtet die Partikel zu einem harten Komposit. Dabei verzweigt sich das Netzwerk an Pilzfäden immer weiter und wirkt wie ein Mörtel, der die Betonteile miteinander verbindet. Die neuen Materialien sollen CO2-arm produziert und immer wieder recycelbar sein.

Eine Abbildung eines gelben Zitterlings auf der linken Seite und eines Hallimaschs auf der rechten Seite. Schwarzer Hintergrund.

Die Stunde der Hidden Champions

Wie organisch sich Myzel-Material mit anderen Werkstoffen verbinden lässt, zeigt Meyer auch in ihren eigenen künstlerischen Arbeiten – und spiegelt mit ihren Pilzskulpturen den Zeitgeist wider: Die Begeisterung für die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten von Pilzen findet sich mittlerweile in den unterschiedlichsten Bereichen. Sie hat die Kunst ebenso erfasst wie die Popkultur, die Wirtschaft ebenso wie die Wissenschaft. Wir erleben zurzeit einen regelrechten „mushroom boom“. Pilzexperten wie dem promovierten US-Biochemiker Gordon Walker folgen über eine Million Fans virtuell auf den Streifzügen durchs Unterholz. Die isländische Sängerin Björk widmete den unterirdischen Lebewesen ihr neuestes Album, Fotografen setzen Pilze ästhetisch in Szene. Und Industrie und Wissenschaft wollen Pilze dazu bringen, mit ihrem Stoffwechsel dem Klima zu helfen – etwa indem die Organismen Fleischersatzprodukte herstellen oder ressourcenschonende Werkstoffe.

 

Die Talente von Pilzen bieten auch für die Industrie viele Chancen. „Wenn wir weg wollen von fossilen Rohstoffen hin zu nachwachsenden, müssen wir das Potenzial von Pilzen nutzen“, so Professorin Meyer. BASF tut genau das und lässt die kleinen Organismen in großem Maßstab aufleben: Sie verwerten organische Rohstoffe wie Zucker und verstoffwechseln sie zu nachhaltigen Produkten. „Dadurch können sie erdölbasierte chemische Prozesse ersetzen. Pilzliche Biotechnologie ist daher zusammen mit bakteriellen und weiteren Verfahren für uns eine Schlüsseltechnologie auf dem Weg zur klimaneutralen Chemie“, erklärt Dr. Doreen Schachtschabel, Vice President White Biotechnology Research bei BASF. Die industrielle Biotechnologie – auch Weiße Biotechnologie genannt – dürfte in den nächsten Jahren schneller wachsen als das klassische Chemiegeschäft. Bereits heute gibt es rund 3.000 Produkte im BASF-Portfolio, die zur Biotechnologie zählen oder biologisch abbaubar sind: von Aroma- und Duftstoffen bis hin zu Pflanzenschutzmitteln.

Jeder Pilz tickt anders

„Pilze sind für BASF besonders interessant, da man ihnen gewünschte Eigenschaften gentechnisch quasi einschreiben kann – um sie so zu effizienten Zellfabriken für industrielle Anwendungen zu machen“, sagt Dr. Stefan Haefner, Experte für industrielle Biotechnologie bei BASF. Einer der vielversprechenden Mikroorganismen versteckt sich hinter dem Namen Ashbya gossypii. In seiner herkömmlichen Form befällt der Pilz Tomaten, Haselnüsse oder Zitronen. Genetisch verändert wird Ashbya gossypii dagegen zur smarten Zellfabrik. BASF-Forschende konnten den Pilz beispielsweise so modifizieren, dass er große Mengen an Vitamin B2 im Bioreaktor, dem sogenannten Fermenter, produziert.

 

In der Vergangenheit wurde Vitamin B2, essenziell für die Ernährung von Mensch und Tier, chemisch synthetisiert: Ein langwieriger, siebenstufiger Prozess, für den verschiedene Chemikalien erforderlich waren und an dessen Ende eine geringe Ausbeute stand. „Wir haben das durch ein einfaches Ein-Schritt-Verfahren ersetzt“, sagt Dr. Birgit Hoff, BASF-Projektleiterin für industrielle Biotechnologie. „Wir füttern den Pilz mit Pflanzenöl, das er dann in Vitamin B2 umwandelt.“ Im Vergleich zum chemischen verbraucht das biotechnologische Verfahren ein Viertel weniger Energie, erzeugt ein Drittel weniger Treibhausgas – und ist dank des nachwachsenden Rohstoffs ressourcensparend. „Aber Pilze sind komplexe Systeme“, betont Pilzexperte Haefner. „Jeder tickt anders. Wenn man einen mit seinen Stoffwechselwegen kennt, kennt man den anderen noch lange nicht.“ Doch gerade das ist es, was sie so nützlich macht. „Durch die fast unerschöpflichen Möglichkeiten können sie eine erstaunliche Produktvielfalt hervorbringen.“

 

Dabei gibt es noch viel unentdecktes Potenzial: Ein Forschungsteam aus Berlin und London vermutet, dass es 2,2 bis 3,8 Millionen Pilzarten gibt, von denen erst 120.000 wissenschaftlich beschrieben sind. Jährlich werden etwa 1.500 weitere entdeckt. „Gleichzeitig legen Pilze – je nach Entwicklungsstadium – eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit ihrer Erscheinung an den Tag“, sagt der Biochemiker Walker und führt den Goldgelben Zitterling an: Auf Totholz bilde er leuchtende Fruchtkörper, wenn er Geschlechtszellen ausbildet. Die gleiche Art kann sich aber auch ungeschlechtlich vermehren, über Sporen, und trete dan als Hefepilz auf.

Ein Gliocladium Pilz.

Appetit auf Abfall

Ein weiterer Pilz, der sich hefenartig vermehrt, ist derjenige, der in Tschernobyl Radioaktivität in chemische Energie wandelt, um zu wachsen. „Er ist nur ein Beispiel, wie Pilze als segensreiche Zerstörer wirken können“, betont Walker. Andere können zum Beispiel auch Kunststoff zersetzen: Landwirte machen sich dies mit der Mulchfolie aus zertifiziert biologisch abbaubarem ecovio® von BASF zunutze: Sie pflügen die Folie nach der Ernte einfach unter. Mikroorganismen wie Bakterien oder Pilze erkennen die Struktur der Folie, wandeln sie zu CO2, Wasser und Biomasse um – und bringen das Material so in den natürlichen Kreislauf. Der Kreislauf hat es auch Walker angetan: Wer fungale Organismen beobachte, erkenne: In der Natur gibt es keinen Abfall. Alles wird zersetzt und runderneuert, ein echter Kreislauf eben. „Pilze“, sagt Walker, „sind große Talente, die uns helfen können, eine lebenswerte Erde zu erhalten.“

Portrait Gordon Walker

„Pilze sind große Talente, die uns helfen können, eine lebenswerte Erde zu erhalten.“

Gordon Walker, PhD
Biochemiker

Nahaufnahme eines Seitlings.

Weiterführende Artikel