Geschichte

Kampfstoffe und Zyklon B

Die I.G. Farbenindustrie AG produziert während des Zweiten Weltkriegs Giftgase. Zum Beispiel stellt sie über eine Betreibergesellschaft, die Anorgana GmbH mit Sitz in Ludwigshafen, im Werk Dyhernfurth bei Breslau (Schlesien, heute Polen) die Kampfstoffe Tabun und Sarin sowie im bayerischen Gendorf den Kampfstoff Lost her.

Zyklon B ist ein Giftgas auf Blausäurebasis, das seit September 1941 in Gaskammern von NS-Konzentrationslagern zur systematischen Ermordung von weit mehr als einer Million Häftlingen, die meisten von ihnen Juden, eingesetzt wird. Ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel entwickelt, wird Zyklon B von der 1919 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH (Degesch) bzw. seit 1930/31 von ihren Vertriebsgesellschaften verkauft. Nach Kriegsbeginn (1939) werden Wehrmacht und SS Großkunden der Degesch bzw. ihrer Vertriebsfirmen – nicht nur Soldatenunterkünfte, auch Baracken der Konzentrationslager müssen entwest werden, um die Ausbreitung von krankheitsübertragendem Ungeziefer zu verhindern.

Seit 1930 ist die I.G. Farben mit 42,5 Prozent an der Degesch beteiligt. Carl Wurster (1900-1974; 1952-1965 Vorstandsvorsitzender der neugegründeten BASF) gehört seit 1940 ihrem Verwaltungsrat an. Nach Kriegsende (1945) und insbesondere im Rahmen der Nürnberger Prozesse wird die Frage gestellt, ob Verantwortliche der I.G. Farben wussten, dass Zyklon B ab September 1941 zur massenhaften Ermordung von Menschen eingesetzt wurde. Mit letzter Sicherheit lässt sich eine Antwort nicht geben. Die erhaltenen Unterlagen und Zeugenaussagen geben jedenfalls keine Hinweise darauf, dass Carl Wurster von der missbräuchlichen Anwendung des Schädlingsbekämpfungsmittels zur industriellen Massenvernichtung wusste. Für ihn wie die übrigen Mitglieder des Degesch-Verwaltungsrats, die keinen Einblick in die laufende Geschäftsführung hatten, ließ sich aus den Verkaufszahlen für Zyklon B eine Unregelmäßigkeit nicht erkennen. Denn dadurch, dass im Verlauf des Krieges immer mehr Menschen in Lagern untergebracht waren, war zu erwarten, dass die Nachfrage nach Entlausungs- und sonstigen Schädlingsbekämpfungsmitteln steigen würde. Außerdem lag der tatsächlich verzeichnete Umsatz an Zyklon B nach dem Beginn der Tötungsaktionen im September 1941 in Auschwitz nicht wesentlich höher als zuvor. Wurster wird 1948 in allen Anklagepunkten freigesprochen.

Des Weiteren kommt die neuere Forschung zu dem Urteil, dass die Degesch auch nach der Beteiligung anderer Unternehmen (1930) „ein integraler Bestandteil des Degussa-Konzerns und nicht etwa der IG Farben [blieb], wie es in den Kriegsverbrecherprozessen gegen den Vorstand im Jahr 1947/48 fälschlicherweise unterstellt wurde und bis heute gängige Ansicht ist.“